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Die Märchenfabrik

Essay
Die Märchenfabrik
by Laurence Berlamont-Equey

In der sechsten großen Wechselausstellung seit der Wiedereröffnung des Musée d'ethnographie de Genève (MEG) im November 2014 bildet "La fabrique des contes" ("Die Märchenfabrik") den Abschluss eines ersten Zyklus, der das MEG auf Reisen von einem Kontinent zum anderen und durch die Jahrhunderte geführt hat. "La fabrique des contes" bietet ein intensives, unvergessliches Erlebnis. Die Ausstellung besteht aus mehreren hundert Objekten aus den Sammlungen des Museums oder aus Leihgaben und enthält zudem viele zeitgenössische Neu-Kreationen, zu denen vier Illustratoren, ein Kostümbildner und ein Dramatiker beigetragen haben. Darüberhinaus bietet "La fabrique des contes" ein lebendiges Programm mit verschiedenen Aktivitäten für ein breites Publikum: unterschiedliche Arten von Besichtigungen, Begegnungen, Workshops und Aufführungen.

 

EINFÜHRUNG

Märchen sind bei weitem nicht nur für Kinder reserviert und nicht so unschuldig, wie sie vielleicht erscheinen. Mit der neuen Ausstellung "La fabrique des contes" rückt das MEG traditionelle europäische Volksmärchen in den Fokus. Ab 2019 können Besucher in die phantastische Welt der Märchen eintauchen, ihre Geschichte ebenso entdecken wie die vielfältigen Formen der Instrumentalisierung, denen sie unterworfen waren.

"Es war einmal..." Wir alle kennen Geschichten, die mit diesen drei Worten beginnen. Von Finnland bis zum Mittelmeer, von den keltischen Ländern bis zum Balkan sind Märchen ein Teil unseres gemeinsamen Erbes. Sie gehören zu unserer kollektiven Vorstellungskraft. In "La fabrique des contes" erkundet das MEG dieses Universum, das sowohl vertraut als auch völlig fantastisch ist.

Acht Märchen, die der breiten Öffentlichkeit wenig oder gar nicht bekannt sind, werden in sogenannten "Théâtres de l’imaginaire" ("Theatern der Phantasie") inszeniert. Magische Laternen, Dioramen, Spiegel, optische Täuschungen und Maßstabsveränderungen lassen uns völlig in die Geschichten eintauchen und die Regeln der realen Welt über Bord werfen. Fabrice Melquiot, Schriftsteller und Regisseur des Theaters Am Stram Gram, hat für das MEG zeitgenössische Versionen dieser oft uralten Erzählungen geschrieben. Doch ihre Themen bleiben aktuell: die Schwierigkeit, einen (Ehe-)Partner*innen zu finden, das Verhältnis zur Natur und zum Tod oder der unstillbare Durst nach Macht. Objekte aus den europäischen Sammlungen des Museums beleuchten diese Geschichten, die zudem von vier eigens eingeladenen Illustratoren durch Zeichnungen, Gemälde und Scherenschnitte zum Leben erweckt werden.

Ein weiterer Teil der Ausstellung zeigt im "Back-Stage-Bereich" die europäische Geschichte dieser mündlichen Überlieferungen, die oftmals fast so viele Varianten besitzt, wie es Rezitator*innen gibt. Seit der Renaissance gesammelt, finden sich die Märchen heute in der Regel in einer einzigen Fassung wieder, die den Erwartungen der zeitgenössischen Leser entspricht. Wer würde heute noch die Variante von Rotkäppchen lesen wollen, in der das Kind das Fleisch der vom Wolf getöteten und gebratenen Großmutter isst?

Ungeheuer populär und als Teil des kollektiven Imaginären in Europa, wurden Märchen unweigerlich dazu benutzt, das Denken der Menschen zu lenken und ihr Verhalten zu beeinflussen. Sie vermittelten oft moralische Botschaften und ermöglichten es, den Kindern die Tugenden der bürgerlichen Gesellschaft zu vermitteln. Auch die Politik bediente sich ihrer, zu Propaganda- oder Protestzwecken. So wie die Nationalsozialisten, die Filme produzierten, die die Märchen der Gebrüder Grimm für das Deutschland der 1930er Jahre adaptierten. Oder die feministische Bewegung, die Hexen zu antipatriarchalen Figuren werden ließ. Bis heute können alle die Märchen auf ihre Weise interpretieren und ihre eigenen Werte auf sie projizieren...

 

DIE SZENOGRAFIE DER AUSSTELLUNG

Die Szenografie der Ausstellung "La fabrique des contes" wurde nach einer Ausschreibung, an der sich fünf Szenografen beteiligten, an Holzer Kobler Architekturen vergeben. Das 2004 von den Architekten Barbara Holzer und Tristan Kobler in Zürich gegründete Büro hat bereits rund hundert szenografische Projekte auf nationaler und internationaler Ebene realisiert. Dazu gehören in Deutschland die Gestaltung der Dauerausstellungen des Militärhistorischen Museums Dresden (2011) und der Grimm Welt Kassel (2015) sowie jene der temporären Ausstellungen "Qin, der ewige Kaiser und seine Terrakotta-Krieger" im Berner Historischen Museum (2013) oder "Prison" im Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum in Genf (2019).

Das szenografische Konzept der Ausstellung "La fabrique des contes" gliedert sich in drei Teile, die sich in Bezug auf das Ausstellungserlebnis stark unterscheiden. Wie eine Schwelle, die die reale von der imaginären Welt trennt, präsentiert sich der Prolog die Form eines schlichten, nüchternen Zugangsbereichs, dessen Wände die Formulierung "Es war einmal..." in vielen europäischen Sprachen flüstert. Er öffnet sich auf ein monumentales schmiedeeisernes Tor hin, das den Eingang zum zentralen Ausstellungsraum markiert. Die Besucher*innen durchschreiten das Tor und befinden sich sofort in einer neuen Atmosphäre, die an den Backstage-Bereich eines Theaters oder an die Gassen eines Labyrinths erinnert. Dies ist der Ausstellungsbereich mit dem Titel "Les ficelles des contes" ("Die Spuren der Märchen"), der sich durch seinen funktionalen Aspekt auszeichnet. Hier ist die tragende Struktur, wie im Centre Pompidou die Rohre, die für die technischen Installationen beim Bau des Gebäudes und seiner Ausstattung Verwendung finden, zum gestalterischen Prinzip erhoben: Der Charme dieser utilitaristischen Korridore wird zu einer Art Leitmotiv, das in sich selbst ein wahrhaft experimentelles Universum bildet.

Die engen Gänge schlängeln sich zwischen den acht "Théâtres de l’imaginaire" hindurch, die das Herzstück und den dritten Teil der Ausstellung bilden. Die geschlossenen Märchensäle sind frei im Raum angeordnet und somit für die Besucher*innen in beliebiger Reihenfolge zu entdecken. Das Innere dieser Räume ist von außen her nicht einsehbar; man tritt ein und befindet sich inmitten eines spezifischen Universums, in dem die Illusion regiert. Hier ist jedes Märchen so inszeniert, wie es zu seiner imaginären Welt passt oder wie es von einem der vier Illustratoren grafisch bearbeitet wurde. Die Wände, die Böden und die Decken sind Teil der Atmosphäre des Ortes und schaffen eine Stimmung, die mit dem Thema des Märchens in Zusammenhang steht (Trunkenheit, Exzess, Reichtum usw.). Diese immersiven Räume nutzen den Maßstab der Objekte, die Ungewöhnlichkeit der Materialien oder die Helligkeit der Farben und der Beleuchtung... Die Neugierde der Besucher*innen wird so durch den Wunsch angeregt, all die seltsamen, verborgenen Märchenwelten zu entdecken.

Schließlich präsentiert sich ein neunter Raum mit dem Titel "La Fabrique" ("Die Fabrik") als lebendiges Geschichtenlabor: ein Ort des künstlerischen Schaffen, Spielen, Entdeckens und poetischen Reisens, sowohl für Profi-Geschichtenerzähler*innen als auch für alle Amateur*innen.

 

Credits

© Radek Brunecky